Japan - zwischen Tradition und Reformen

Prognosen über die künftige Entwicklung der japanischen Wirtschaft bleiben schwierig. Die Abenomics haben Japan in erster Linie ein Zeitfenster geöffnet, welches nun für Strukturreformen genutzt werden sollte. Doch diese erfordern tiefgehende Einschnitte - und den Bruch mit Tradition.

IAP: Kurz nach seiner Wiederwahl Ende 2013 kündigte der japanische Premier Shinzo Abe an: „Japan is back!“. Wie ist Ihr zwischenzeitliches Resümee nach zweieinhalb Jahren Abenomics?

Prof. Goydke: Am Anfang war die Euphorie groß. Nach Jahren der politischen Lähmung schien mit Abe tatsächlich jemand zu kommen, der klare wirtschaftspolitische Ziele hatte und glaubhaft machen konnte, dass er das Land aus der Lethargie führen würde. Mittlerweile hat sich Ernüchterung breit gemacht. Die Regierung Abe hat zwar die sogenannten ersten beiden „Pfeile“ der Abenomics, also die monetäre und fiskalische Stimulation, „abgeschossen“, nur sichtbare Ergebnissegibt es bisher wenige. Insbesondere die Hoffnung, dass durch eine extrem expansive Geldpolitik die Deflation überwunden und die japanische Wirtschaft auf einen stabilen Wachs-
tumskurs zurückkehren würde, hat sich bisher nicht erfüllt.

IAP: Japan hat im letzten Jahr die Mehrwertsteuererhöhung (von 5 auf 8 Prozent) nur schwer verkraftet und ist daraufhin in die Rezession gestürzt. Die Wachstums-
prognosen für 2015/16 sind wieder positiv. Geht es jetzt wieder dauerhaft bergauf?


Prof. Goydke: Angesichts der gigantischen Staatsverschuldung blieb der Regierung kaum eine andere Wahl, als die Steuern zu erhöhen. Mit einem Einbruch nach der Erhöhung musste man rechnen, schon allein deswegen, da vorher die Konsumausgaben naturgemäß noch einmal deutlich angezogen hatten. Überrascht hat dann letztlich nur die Stärke des Einbruchs. Die Regierung hatte darauf gebaut, dass die Unternehmen durch eine Anhebung der Löhne die Mehrwertsteuererhöhung abfedern würden. Die Gehälter wurden aber nur sehr zögerlich und letztlich zu spät angepasst. Dadurch, dass jetzt aber eine steigende Zahl von Arbeitnehmern tatsächlich mehr Geld in der Lohntüte hat, gehe ich davon aus, dass sich der Konsum stabilisieren wird. Allerdings darf man den Beitrag des Konsums zum Wirtschafts-wachstum auch nicht überbewerten. Auch die Investitionen müssten deutlich anziehen, die Unternehmen investieren, wenn überhaupt, aber eher im Ausland als im Inland.

Japan fehlt ein innovativer Mittelstand

IAP: Der dritte Pfeil der Abenomics, die Strukturreformen, scheint mittlerweile den Köcher verlassen zu haben. Die Unternehmenssteuern werden gesenkt, Lohner-
höhungen wurden ausgehandelt und bedeutende Freihandelsabkommen sind auf dem Weg. Wurden die Kritiker somit eines besseren belehrt?


Prof. Goydke: Die Signale sind sicher positiv, es handelt sich aber bisher überwiegend um Absichtserklärungen. Über das Freihandelsabkommen mit der EU wird genauso noch verhandelt wie über das Trans-Pacific Partnership Agreement (TPP). In beiden Fällen rechne ich nicht mit einem allzu schnellen Abschluss. Der Wider-
stand insbesondere gegen Zugeständnisse im Agrarbereich ist in Japan nach wie vor groß. Die Absenkung der Unternehmenssteuer könnte zu einer Stimulierung der Wirtschaft beitragen. Trotzdem sind aber viele strukturelle Probleme nach wie vor ungelöst. So verfügt Japan immer noch über einen großen Bereich mit international nicht wettbewerbsfähigen Unternehmen. Anders als in Deutschland fehlen in Japan hochinnovative, global aufgestellte Mittelständler. Das soll nicht heißen, dass der japanische Mittelstand nicht auch innovativ ist, aber er ist sehr stark binnenmarktorientiert. Ein Großteil der mittelständischen Unternehmen ist als „unvollständiges Unternehmen“ zudem fest in das Zuliefernetzwerk der Großunternehmen eingebunden und stark von ihnen abhängig.

IAP: Japan galt in der Vergangenheit stets als sehr geschlossener Markt. Welchen Einfluss werden mögliche Freihandelsabkommen mit der EU und den Pazifikanrainern haben? Wird Japans Wirtschaft sich tatsächlich öffnen?

Prof. Goydke: Ein weit verbreitetes Argument ist, dass entscheidende Veränderungen in Japan immer durch Druck von außen ausgelöst worden sind. Was sicherlich stimmt, ist, dass Japan sich häufig schwer tut mit tiefgreifenden Veränderungen. Insofern könnten die Abkommen durchaus wichtige Impulse zu einer Öffnung geben. Ich glaube aber, man sollte die Hoffnung nicht zu hoch hängen. Gerade in den für deutsche Unternehmen interessanten Branchen spielen Handelshemmnisse meines Erachtens keine große Rolle. Der japanische Markt ist sicher hochkomplex und ausländische Wettbewerber werden nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Die vielen deutschen Unternehmen, die erfolgreich in Japan Fuß gefasst haben, zeigen aber, dass man es durchaus schaffen kann. Die Abkommen mögen vielleicht Zulassungsverfahren vereinfachen, wenn aber japanische OEMs weiterhin nur in ihrem japanischen Zuliefernetzwerk einkaufen, nützt das einem ausländischen Zulief-
erer wenig. Ich glaube, letztlich wäre es hilfreich, wenn sich die japanische Wirtschaft stärker globalisieren würde. Freihandelsabkommen mögen dazu beitragen, es sind jedoch noch viel tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderungen nötig. Wenn ich z.B. sehe, dass in Deutschland ein Auslandsaufenthalt während des Studiums quasi Standard ist, in Japan aber seit Jahren die Zahl der japanischen Studierenden im Ausland kontinuierlich sinkt, bin ich nicht sehr optimistisch. Trotzdem wird natür-
lich auch Japan globaler. Wer über die letzten Jahre regelmäßig Japan besucht hat, spürt das. Es geht eben nur relativ langsam.

Japan öffnet sich - aber langsam

IAP: Keine Industrienation ist so hoch verschuldet wie Japan. Die Staatsverschuldung liegt aktuell bei etwa 245 Prozent des BIP. Wie sicher ist das Vertrauen der Gläubiger im Inland?

Prof. Goydke: Die Gläubiger sind ja auf der einen Seite institutionelle Investoren und andererseits die relativ wohlhabenden Babyboomer, die maßgeblich vom Wirt-
schaftsboom bis in die 1980er Jahre profitiert haben. Auch mangels alternativer Anlageformen haben beide Gruppen ihr Geld in Staatsschuldtiteln angelegt. Diese Anlagen sind aber anders als in den meisten anderen Ländern nicht rein renditegetrieben gewesen, sondern entsprechen auch dem Verständnis, dass man dem eigenen Land in Krisenzeiten beistehen und auch etwas zurückgeben muss. Interessanter wird die Frage, wie es mit der jüngeren Generation weitergehen wird, die quasi ihr ganzes bisheriges Leben nur Niedrigwachstum, Rezession und sinkende Reallöhne kennt und entsprechend auch deutlich weniger Vermögen aufbauen konnte. Auch ist die Verzinsung von Staatsanleihen ja mittlerweile nahe Null oder sogar negativ, so dass sie als Anlagemöglichkeit momentan quasi ausfallen. Auch wenn sich dies in Zukunft wieder ändern sollte, ist allein aufgrund des demografischen Wandels damit zu rechnen, dass zunehmend Ausländer Staatsanleihen halten werden. Und ob deren Vertrauen ähnlich unerschütterlich bleibt, ist fraglich.

IAP: Demographischer Wandel: Immigration scheint für die Regierung keine Option zu sein. Die zunehmende Partizipation der Frauen am Erwerbsleben steht derweil ganz oben auf der Agenda der Regierung. Kann und wird sich das Frauenbild in Japan tatsächlich ändern?

Prof. Goydke: Ich bin immer wieder überrascht, wie tradiert die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern in Japan nach wie vor ist. Man muss wohl sagen, dass Beruf und Familie nach wie vor fast unvereinbar sind. Abe hat sich ja gerade die berufliche Förderung von Frauen auf die Fahnen geschrieben, zu spüren ist davon aber bisher wenig. Angesichts des sich bereits abzeichnenden dramatischen Fachkräftemangels glaube ich aber auch, dass es sich ändern wird und nur Zeit braucht. Letztlich wird aber auch eine stärkere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt das demografische Problem nicht lösen. Die OECD geht davon aus, dass selbst bei einer Partizipationsrate ähnlich der der Männer die Bevölkerung weiter schrumpfen würde. Japan müsste sich zusätzlich in einem Umfang für ausländische Fachkräfte öffnen, wie es sich die meisten Japaner wohl kaum vorstellen können und wollen. Bisher hat Japan durch Innovation den demografischen Wandel abgefangen. Mit einer rapide alternden Bevölkerung wird dies aber immer schwerer. Persönlich habe ich das Gefühl, dass Japan lieber wie prognostiziert schrumpfen wird, ehe man im gro-
ßen Stil Ausländer ins Land holt.

Chancen im Energie- und Medizinmarkt

IAP: Trotz vieler Herausforderungen bietet Japan nach wie vor einen attraktiven Markt mit einer kaufkräftigen Bevölkerung. Welche Bereiche erachten Sie als besonders vielversprechend für deutsche Unternehmen?

Prof. Goydke: Japanische Unternehmen und Verbraucher achten zwar mittlerweile auch mehr auf den Preis, aber letztlich wird in Japan für gute Produkte immer noch gut gezahlt, so dass die Margen in der Regel höher liegen als in vielen Referenzmärkten. Neben den Bereichen, in denen deutsche Unternehmen bereits seit langem gut in Japan etabliert sind, also im Maschinen- und Anlagenbau, Automobilbereich sowie der Chemie- und Pharmaindustrie, ergeben sich gerade auch für mittel-
ständische Unternehmen Chancen in Bereichen, in denen japanische Unternehmen nach wie vor schlechter aufgestellt sind bzw. die Bedarfe sehr hoch sind. Seit Fukushima ist das der Bereich der erneuerbaren Energien oder auch die Medizin- und Gerontotechnik. Aber auch bei dem, was bei uns intensiv unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ diskutiert wird, also insbesondere die Einbindung des Mittelstands in die digitale Welt, hat Japan noch Nachholbedarf.

IAP: Die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokyo werden Japan zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen. Wie sind Ihre Erwartungen an die Olympiade?

Prof. Goydke: Von den Spielen werden vor allem die Baubranche und der Tourismus profitieren. Wie nachhaltig die Investitionen sein werden, hängt sicher davon ab, ob man von den Fehlern anderer lernt und kluge Konzepte für die Nachnutzung der Spielstätten und der damit verbundenen Infrastruktur entwickelt. Bemerkenswert ist, dass das Orga-
nisationskomitee jetzt bereits die höchste jemals erreichte Summe an Sponsorengeldern eingesammelt hat (1,4 Mrd. Euro). Das zeigt, welche Bedeutung die japanischen Unternehmen dem Event beimessen. Japan verzeichnet seit einiger Zeit bereits einen starken Anstieg an Touristen (2014 sind die Besucherzahlen um 30 Prozent gestiegen) vor allem aus den asiatischen Ländern. Olympia dürfte dem noch einen weiteren Schub geben. Insgesamt bietet Olympia die große Chance, in vergleichbar kurzer Zeit nicht nur die Infrastruktur sondern auch das Image zu modernisieren.

 

 

 

 

 

 

Prof. Dr. Tim Goydke

Prof. Dr. Tim Goydke ist Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Japans und wissenschaftlicher Direktor des Internnational Graduate Center an der Hochschule Bremen.