Japans Erholung und zukünftige Rolle in Asien

Asiens zweitgrößte Ökonomie erholt sich zurzeit zügig und ist damit nicht nur einen, sondern gleich drei Blicke wert.

Auf den ersten Blick bringt „Abenomics” das Land nach Jahrzehnten mühsamer Strukturanpassungen und einer Reihe von Katastrophen mit einer extrem expansiven Politik endlich wieder in Schwung. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, ob dies nicht nur ein weiteres Strohfeuer ist und ob langfristige Probleme wie die enorme staatliche Verschuldung nicht nur umgangen werden. Auf den dritten Blick wird es dann richtig spannend, denn Japan etabliert sich wieder als einer der wich-
tigsten „Player“ in der größten und sich am schnellsten verändernden Wachstumsregion der Welt.

Gute Nachrichten aus Japan scheinen schon lange überfällig, denn seit inzwischen einer Generation liest sich die Geschichte wie eine Aneinanderreihung von Krisen: Die Finanzblase (1991-1995), die folgende Bankenkrise (1997-2002), der Kampf gegen die fallende Wettbewerbsfähigkeit (2002-2004), schließlich die weltweite Finanzkrise (2007-2010) und dann auch noch eines der größten je gemessenen Erdbeben, der Tsunami und die Nuklearkatastrophe, die ganze Landesteile verwüs-
teten und fast 30 Prozent der Elektrizitätsproduktion lahm legten (2011-2015). All dies vor dem Hintergrund einer rapide alternden Gesellschaft, die dem Land nur 24 Jahre mit einer ausgewogenen Demographie zum Ausbau eines umfassenden Sozialversicherungssystems ließen.

Seit Ablauf dieser Frist um die Jahrtausendwende explodieren daher die staatlichen Transfers in die Sozialkassen und haben die Verschuldung auf 240 Prozent des BIP getrieben. „Abenomics", mit seinem Wachstumsoptimismus und einem umfassenden Programm der „Strukturreformen" zur Beseitigung der Altlasten, wurde daher nicht nur an den Börsen mit einem Kursfeuerwerk aufgenommen (der Nikkei hat sich seit 2012 verzweieinhalbfacht). Auch die Arbeitsnachfrage ist gestiegen, es herr-
scht bei 3,5 Prozent Arbeitslosigkeit praktisch Vollbeschäftigung, Exporte treiben das Wachstum in den traditionellen Industrien wieder an, die großen Unterneh-
men haben inzwischen Barreserven von fast der Hälfte ihrer Börsenkapitalisierung aufgehäuft, und die Nachfrage hat sich innerhalb eines Jahres von einer lange überfälligen Mehrwertsteuererhöhung erholt. Gleichzeitig drängt das Land wieder aktiv nach außen, scheut die Konfrontation mit einem zunehmend hegemonial auftretenden China nicht und versucht sich aktiv in die Wachstumsmärkte Südostasiens zu integrieren.

Strohfeuer "Abenomics"?

Der zweite Blick zeigt jedoch, dass ein Großteil dieser Erfolge nur durch eine extrem expansive Geldpolitik und eine Abwertung des Yen um 35 Prozent erreicht wurde. Die Skepsis in Bezug auf die längerfristige Reformfähigkeit von Land und Regierung sitzen daher vor allem in der japanischen Industrie und bei den Haushalten weiterhin tief. Von außen betrachtet scheint dies zumindest teilweise ungerecht, denn die bisherigen großen Reformprogramme (Hashimoto 1997, Koizumi 2002, DPJ Regierung 2009 und Abe 2012) brauchen sich hinter den Reformen unter Reagan und Schröder nicht zu verstecken. Letztlich blieben auch die realen Wachstumsraten Japans im letzten Jahrzehnt mit rund 1,5 Prozent pro Beschäftigten keineswegs hinter den USA oder Deutschland zurück.

Nur reicht all dies natürlich nicht, wenn, wie in Japan, die Herausforderungen, an denen man sich messen lassen muss, ungleich viel größer sind. Tatsächlich bleiben schon die mittelfristigen Wachstumsaussichten wieder weit hinter den hehren Zielen der Regierung zurück. Dank schwachem Yen, expansiver Politik, billigem Öl und starkem Markt in den USA kann Japan dieses und nächstes Jahr wohl mit rund 1,5 Prozent wachsen. Ab 2017 wird dies aber kaum noch zu erreichen sein, denn die tem-
porären Rückenwinde werden wieder wegfallen und neue Steuererhöhungen zur Finanzierung der weiter steigenden Sozialausgaben werden die Wirtschaft weiter belasten. Hinzu kommt, dass sich die bereits heute deutliche Abnahme der Bevölkerung auffallend beschleunigen wird und Japan in knapp 30 Jahren um 25 Millionen Menschen kleiner sein wird.

In Deutschland haben ähnliche Aussichten zu einer umfassenden Einwanderungspolitik geführt, die seit langem die Arbeitsbevölkerung und das Wachstum stabilisiert hat. In Japan wird eine Erhöhung des Ausländeranteils von bisher langfristig unter zwei Prozent (USA und Deutschland 13 Prozent) aus Sorge um die kulturelle Identität und vor den Schwierigkeiten einer wirkungsvollen Integrationspolitik nicht ernsthaft diskutiert. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass trotz gegenwärtig international niedriger Löhne der Arbeitsmarkt ein langfristiges Wachstumshemmnis bleiben wird. Für langfristiges Wachstum wird Japan daher neue Produktivitätsrekorde aufstellen müssen. Der Anspruch der Abenomics-Reformen ist dementsprechend enorm und die Regierung versucht, alle wesentlichen Probleme der Wirtschaft gleichzeitig an-
zugehen.

Der Einstieg in das weltweit ehrgeizigste Freihandelsprojekt mit den USA und weiten Teilen Asiens (TPP) soll nicht nur Handelshemmnisse abbauen, sondern auch das Investitionsklima verbessern und verkrustete Strukturen aufbrechen. Ein neuer „Governance Code" für Unternehmen soll das Management stärker auf Produktivität und Profitabilität fokussieren und wesentlich transparenter machen. Eine Agrarreform soll endlich Investitionen von Privatunternehmen in Japans kooperativ organisierte Landwirtschaft ermöglichen und damit die immer weiter zurückfallenden Regionen in Schwung bringen.

Der niedrige Wechselkurs soll nicht nur für Exporte, sondern auch zum Aufbau einer Tourismusindustrie genutzt werden, die das so exotische und für ganz Asien so interessante Land auf eine Stufe mit Frankreich, Italien oder der Schweiz stellen kann. Die Energiewirtschaft muss durch Liberalisierung und Verkauf der Netze deutlich effizienter werden. Schließlich wird auch noch ein Kulturwandel angestrebt, der den extrem gut ausgebildeten Frauen bessere Chancen im Beruf eröffnen und lang-
fristig auch noch die demographischen Probleme in den Griff bekommen soll.

Japan: Kein asiatisches Griechenland

Wie realistisch ist all dies? Die Regierung arbeitet zweifellos hart an der Umsetzung der Reformpakete und das Umfeld ist günstig, denn der traditionelle Wachstums-
motor Japans, die verarbeitende Industrie, hat inzwischen die Kosten wieder im Griff und kann wieder in Zukunftstechnologien investieren. Die Produktivität steigt hier stark, bleibt aber durch Kapazitäts und Nachfrageprobleme im schrumpfenden Heimatmarkt so lange gefesselt bis die Unternehmen stärker ins Ausland drängen und sich dort neue Märkte erschließen.

Entschieden wird Japans zukünftiges Wachstum letztlich jedoch in den großen Dienstleistungsindustrien, im Handel, in der Gesundheit, der Mobilität und Kommu-
nikation. Dies zeigt sich deutlich bei einem Blick auf Japans erfolgreichste Unternehmen, die heute Fast Retailing, Seven&I, Softbank, Dentsu, aber auch M3, Rakuten, Yamato und Secom heißen. Alle diese Unternehmen wachsen und investieren nicht nur in Japan stark, sie arbeiten auch an ihrer Expansion in den asiatischen Markt. In Japan gewinnen diese Unternehmen in einem Markt, in dem die Urbanisierung inzwischen bei ungeheuren 96 Prozent liegt und in dem die Stadtzentren mit zunehm-
ender Alterung durch Zuzug wieder deutlich wachsen.

Diese Expertise hilft den Unternehmen jetzt beim Sprung ins Ausland, denn inzwischen arbeiten praktisch alle asiatischen Länder massiv am Ausbau ihrer „Megacities" und eifern Tokyo, der weltweit größten, sichersten und produktivsten Metropole der Welt nach. Von Infrastruktursystemen, IT-Systemen und Logistik bis hin zu hypereffizienten Convenience Stores, Restaurations-Franchises und Krankenhausmanagement erleben japanische „urbane" Dienstleistungen einen Boom in Asien.

Damit bleibt als einer der größten Sorgenbereiche die ungebrochen steigende staatliche Verschuldung von fast 240 Prozent des BIP. Anders als von der Regierung behauptet, ist dieses Problem noch keineswegs im Griff und wird auch nicht über höheres Wachstum zu lösen sein. Realistisch betrachtet wird die japanische Regie-
rung seine Schulden nie zurückzahlen können. Interessanterweise bedeutet dies jedoch weder einen anstehenden Staatsbankrott (wie in Griechenland) noch ein unlösbares Schuldendrama, denn die Verschuldung besteht keineswegs aus überzogenem staatlichem Konsum (der in Japan im niedrigsten Bereich der OECD liegt), sondern im Wesentlichen aus staatlichen Transfers von privaten Vermögen in die (ebenfalls keineswegs großzügigen) Sozialkassen.

Dies ist erstaunlich, denn während sich Europa damit rühmt, die weltweit höchsten Sozialtransfers zu finanzieren, nimmt die japanische Regierung Jahr für Jahr Kredite mit extrem niedrigen Zinsen bei den vermögenden Ruheständlern auf und steckt diese in die Finanzierung von subventionierten Pensionen und Gesundheitsdienstleis - tungen. Dieses System wird zwar spätestens dann nicht mehr funktionieren, wenn das Wachstum und damit die Zinsen wieder steigen, aber dies wird wohl kaum „explosiv" verlaufen. Denn der Schuldenberg wird bereits heute durch die massiven Käufe von staatlichen Wertpapieren durch die Bank von Japan reduziert und später durch signifikante Inflation weiter abgeschmolzen.

In nicht allzu ferner Zukunft werden die japanischen Haushalte daher feststellen, dass ihre hohen Ersparnisse real wesentlich weniger wert sind, werden aber dieser Entwicklung praktisch nicht entkommen können. Es wird zukünftig daher zu einer weiteren Belastung der internen Wachstumskräfte, insbesondere des privaten Konsums, kommen, aber eben nicht zu einer „Schuldenkrise".

Öffnung gen Westen

Damit wären wir beim dritten, langfristigen Blick auf Japan, der eher ein Blick auf Ostasien insgesamt ist. Denn da Japan zu Hause kaum noch wachsen kann, wird es wieder deutlich stärker nach außen drängen. Dank einer bisher sehr niedrigen Exportquote von unter 20 Prozent und bei weiterhin günstigen Wechselkursen ließen sich die Exporte mit entsprechenden Investitionen und Unternehmensstrategien verdoppeln, was erheblich zur Finanzierung der Defizite beitragen würde.

Genau darauf zielt der geldpolitische und freihandelsorientierte Teil von Abenomics ab. Die Unternehmen sind von einer solchen merkantilistisch geprägten Strategie jedoch nicht überzeugt. Denn schon heute hat die Wirtschaft mit Kapazitätsengpässen insbesondere im Arbeitsmarkt zu kämpfen. Erfolgversprechender sind da Auslandsinvestitionen in die Zukunftsmärkte, die bei den großen Unternehmen schon lange einen großen Teil der Einkommenszuwächse und Profite sichern.

Um dies zu ermöglichen, müssen die Unternehmen sich jedoch „tief“ und langfristig in ihre Zukunftsmärkte integrieren. Japanische Unternehmen setzen daher zuneh-
mend auf Übernahmen von Schlüsselunternehmen und Freihandels- und Investitionsabkommen absichern muss. Das „Trans Pacific Partnership“-Abkommen (TPP) mit den USA und Asien hat für Japan daher allerhöchste Priorität. Es bedeutet aber auch, dass die Regierung auf die längerfristigen Entwicklungen in den Partnerländern einflussreicher werden muss und schlagkräftige militärische Potentiale zum Eingreifen in Krisenherden braucht. Vor diesem Hintergrund sind daher auch die in Japan und Asien so heiß und kontrovers diskutierten „Sicherheitsgesetze“ und die Re-Interpretation der Verfassung zur Ermöglichung zunehmender Auslandseinsätze der „Selbstverteidigungskräfte“ zu sehen.

Die Anforderungen an die Politik steigen daher weiter erheblich. Während es bis vor einem Jahrzehnt noch so aussehen konnte, als würde der chinesische Markt als Zukunftsmarkt ausreichen, so haben die zunehmenden politischen Auseinandersetzungen und Konkurrenz dieser Illusion bereits ein Ende bereitet. Es ist daher kein Zufall, dass der damals neugebackene Premierminister Abe völlig entgegen aller bisherigen Gewohnheiten gleich zu Beginn seiner Amtszeit alle ASEAN Länder besuchte und bis nach Indien Kooperationen auf allen Ebenen ausbaut.

Selbstverständlich birgt dies großes Konfliktpotential mit China, das in Südostasien eine eigene Expansionsstrategie verfolgt. Im „Inselstreit“ mit Japan ist China daher auch zunächst auf einen Konfrontationskurs geschwenkt, der natürlich auch den USA zeigen sollte, wie sehr sich die Demarkationslinien in Asien verschieben. Chinas Hauptinteressen scheinen jedoch, ähnlich wie in Japan, weniger auf Konfrontation als auf eine umfassende Sicherheitspolitik in dem aus Sicht beider Länder „schwierigen“ politischen und wirtschaftlichen Umfeld Südostasiens zu liegen. Dabei ist hilfreich, dass im wirtschaftlichen Bereich die Interessen beider Länder über-
wiegend komplementär sind.

Schlüsselindustrien in ASEAN

Während Japan in ASEAN seit Jahrzehnten ganze Schlüsselindustrien wie den Fahrzeugmarkt (mit Marktanteilen von über 90 Prozent) dominiert, zieht es sich aus ex-
trem kapital- und arbeitsintensiven Bereichen wie großen Infrastrukturinvestitionen und ganzen Teilen der Elektronikindustrie zurück. Es bahnt sich damit eine Arbeits-
teilung an, die China Investitionen in die „harte“ Infrastruktur (Bahn-, Straßen-, Hafenbau) ermöglicht und Japan eine Spezialisierung auf die „weiche“ Systementwick-
lung und den Technologietransfer erlaubt.

Ähnliches gilt für die Konkurrenz bzw. zukünftige Kooperation zwischen der japanisch dominierten Asian Development Bank (ADB) und der neuen von China geführten Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Nach einem „heißen“ Start beginnen bereits heute die Kooperationsinteressen zu überwiegen. Umgekehrt wird sich die ASEAN Gruppe weiterhin dagegen wehren, ein Spielfeld „größerer“ Interessen zu sein und versucht mit der ASEAN Economic Community (AEC) ab Ende dieses Jahres einen gemeinsamen Markt zu integrieren.

Aufgrund der geringen Marktgröße der einzelnen Länder, der Exportabhängigkeit von China und Japan und den internen Schwierigkeiten eine stabile Ordnungspolitik zu gewährleisten, dürfte dies aber kaum gelingen. Dafür hat die AEC aber durchaus das Potential, Japan und China eine Plattform für Kooperationen zu bieten, die anders kaum möglich wären. Die AEC dürfte damit ein wichtiger Anker der Stabilität in Asien werden, allerdings weniger durch interne Integration als durch externe Kooperation, wie sie mit dem RCEP (ASEAN+6) Kooperationsabkommen angestrebt wird. Aller Skepsis gegenüber den Reformmöglichkeiten von Abenomics und den Wachstumsmöglichkeiten der alternden Gesellschaft zum Trotz, hat Japan damit begonnen, wieder eine größere Rolle in Asien zu spielen.

Die Unternehmen haben einen Großteil ihrer Restrukturierungen abgeschlossen, rechnen aber nicht mehr mit nachhaltigem Wachstum und drängen nach außen. Schlüsselmärkte sind hierbei die schnelle Urbanisierung und der Ausbau der Megacities mit ihrem ungeheuren Investitions- und Technologiebedarf. In allen diesen Bereichen sind japanische Unternehmen technologisch führend, straucheln aber noch bei der Internationalisierung des Managements, der Implementierung von Schnittstellen zu einer wachsenden Anzahl von Partnern und der Integration von globalen IT-Systemen.

Die wirtschaftliche Erholung und die Erschließung von neuen Märkten werden daher auch zu einer wesentlichen Öffnung japanischer Unternehmen nach außen führen.

Martin Schulz

Martin Schulz, Senior Research Fellow, ist seit dem Jahr 2000 Volkswirt am Fujitsu Research Institute (FRI) in Tokyo. An dem privaten „Think Tank“ der japanischen Industrie, das sich vor allem mit Wirtschaftspolitik, Unternehmensstrategien und Zukunftstechnologien beschäftigt, ist er für Globalisierung, internationale Unternehmensstrategien und wirtschaftspolitische Analysen zuständig. Seine Analysen werden regelmäßig in weiten Teilen der internationalen Presse und Medien (BBC, CNBC, ARD, ZDF) zitiert und gesendet.