Nicht zu unterschätzen

Wachstumsflaute, Exportabhängigkeit, schrumpfende Bevölkerung – Japans Herausforderungen ähneln denen, die auf Deutschland zukommen. Auch außenpolitisch gibt es Parallelen: Der Aufstieg Chinas und die Krise Amerikas zwingt Japan, sich weltpolitisch neu auszubalancieren.



Zu den wenigen japanischen Wörtern, die es neben „Sushi“ und „Sumo“ in den internationalen Sprachgebrauch geschafft haben, gehört die Krankheit ,Hashimoto‘. Denn es war der japanische Arzt Hakaru Hashimoto, der vor gut 100 Jahren als erster eine verbreitete Autoimmunerkrankung beschrieb. Zu ihren Symptomen gehören Antriebslosigkeit, Müdigkeit und depressive Verstimmungen. Medikamente können ihre Ausprägung lindern, aber heilen lässt sich Hashimoto nicht. Patienten müssen sich damit abfinden, dass sie weniger Energie haben, als sie früher vielleicht einmal hatten.

Die Symptome passen zu der Malaise, die heute Hashimotos Heimat quält. Seit mittlerweile einer Generation sehnen sich die Japaner zurück nach den Boomjahren der 1970er und 80er, als die Welt und viele Japaner selbst ihrem Land zutrauten, was heute China nachgesagt wird: dass es bald die Welt erobern könnte, was auch immer das heißen mag. Zwar geht es Japan mal besser und mal schlechter (im Moment geht es wieder etwas besser), aber die wilde Wirtschaftswunderdynamik kommt nicht zurück. Das ist frustrierend, schon deshalb, weil neben den Japanern selbst auch das Ausland Japan noch immer an den alten Zeiten misst.

Doch wie Hashimoto-Patienten gut beraten sind, nicht allzu sehr mit ihrem Schicksal zu hadern, so richten sich auch die Japaner widerwillig in den neuen Realitäten ein – und auch wir Europäer dürften ruhig etwas wohlwollender nach Japan blicken. Denn viele der Symptome, die Japan plagen, sind auch uns nicht unbekannt, und die Medikamente, mit denen Japan experimentiert, könnten uns einmal nützen. Obwohl unsere Aufmerksamkeit in Asien derzeit vor allem auf China und vielleicht auf Indien liegt – Japan ist uns unter den asiatischen Wirtschaftsmächten noch immer die nächste.

Die Eckpunkte der japanischen Problematik sind hinlänglich bekannt. Wirtschaftlich: stagnierendes Wachstum, übermäßige Abhängigkeit von Exporten und hohe Schulden. Gesellschaftlich: eine schnell schrumpfende Bevölkerung und wachsende soziale Ungleichheit. Politisch: eine Demokratie mit Selbstzweifeln und einer schwierigen Rolle in ihrer Region. Und trotzdem ist Japan nicht der kranke Mann Asiens. Die internen Probleme sind nicht nur Versagen, sondern auch Ergebnis von Erfolg. Dass Japan am gegenwärtigen Aufstieg Asiens kaum teilzunehmen scheint, liegt nicht zuletzt daran, dass Japan diesen Aufstieg bereits gemeistert hat. Japans Misere ist eben auch ein klassisches Beispiel für „first world problems“ – die Probleme derjenigen, denen es besser geht als fast allen anderen auf der Welt.

So steht Japan trotz aller Hashimoto- Verstimmung im internationalen Vergleich vieler Schlüsselindikatoren gut da. Im Bloomberg-Innovationsindex 2018 etwa belegte es Rang 6 (Deutschland liegt auf Platz 4, die USA auf Rang 11). Der japanische Human Development Index lag 2016 im weltweiten Vergleich auf Rang 17 (Deutschland: Rang 4, Frankreich: Rang 21).

Soziale Ungleichheit wird in Japan zwar zunehmend zum Problem, aber sie fällt im globalen Vergleich eher milde aus. Das Land liegt im Ranking der Gini-Koeffizienten unter den OECD-Ländern auf Platz 22, zwischen Italien und Australien. Deutschland liegt auf Rang 13. Die USA landen auf dem viertletzten Platz (34), knapp vor der Türkei und noch hinter Russland. Aber so fest Japan auch in der „ersten Welt“ verankert ist, das Ausmaß, in dem „first world problems“ es betreffen, ist ungewöhnlich. Das zeigt sich sehr deutlich an Japans Wachstumsschwäche. So lag das BIP des Landes 2016 mit rund 4,9 Billionen US-Dollar deutlich unter den etwa 5,4 Billionen, auf die es sich 1995 belief.

Japans Staatsverschuldung erreichte 2017 etwa 240 Prozent des BIP (Deutschland: rund 65 Prozent). Inzwischen schrumpft Japans Bevölkerung mit Rekordgeschwindigkeit. Geht es so weiter, wird sie von heute gut 127 Millionen bis 2060 auf 87 Millionen zusammenschmelzen. Im gleichen Zeitraum wird die deutsche auf 68 bis 73 Millionen schrumpfen.

Dass diese Trends Japan stärker treffen als andere reiche Länder, spiegelt sich auch im Befinden der Bürger wider. Im World-Happiness-Report, den die UNO jedes Jahr herausgibt, landete Japan zuletzt auf Rang 51 – in der Gesellschaft Russlands, Belizes und Algeriens. Zum Vergleich: Deutschland befindet sich im Ranking der Glücksgefühle auf Platz 16. Das Gefühl in Japan ist, dass es allem Wohlstand zum Trotz einfach nicht so recht vorangeht. In welche Richtung auch? Es fehlt an klaren Perspektiven und Möglichkeiten.

Japans widersprüchliche Interessen

Ein Grund dafür ist, dass Japan tatsächlich in einer Zwickmühle steckt. So ist der Handel mit China die größte Wachstumschance der japanischen Wirtschaft. Gleichzeitig ist der Aufstieg Chinas das größte Problem der japanischen Außenpolitik. Wie soll Tokio sich verhalten?

Ein Blick auf die Debatte in Japan verdeutlicht das Problem. Seit langem kreist sie um die Frage, mit welcher Priorität die beiden Vorgaben – Bindung an die USA und Integration in die Region – zu verfolgen sind. Am einen Ende der Skala befinden sich die „moderaten Pragmatiker“, die auf regionale Integration setzen. Sie fordern eine unabhängigere Außenpolitik, vor allem im Hinblick auf China, weil sie fürchten, dass eine zu enge Anlehnung an Amerika den Interessen Japans schadet. Tatsächlich wird China für Japan immer wichtiger. Heute ist China der größte Handelspartner Japans. Der Wert des bilateralen Handels übersteigt den zwischen Japan und den USA um mehr als die Hälfte. Die Tendenz ist steigend.

An ihrem entgegengesetzten Ende der Skala befinden sich die „Bündnistraditionalisten“. Für sie hat die starke Allianz mit Amerika die oberste Priorität. Das Motiv für ihre Zielsetzung ist die Überlegung, dass Japan an einer Eindämmung Chinas arbeiten müsse, wenn ihm der große Nachbar nicht völlig über den Kopf wachsen soll, und dass dies nur gemeinsam mit den USA gelingen kann.

Die Wirren in den USA ließen Japan nichts anderes übrig, als – um es mit Angela Merkel zu sagen – sein „Schicksal ein Stück weit in die eigenen Hände zu nehmen.“ Das zeigte sich zum Beispiel bei der Trans-Pacific Partnership (TPP). Ausgehandelt während der Amtszeit Obamas, sollte die TPP die größte Freihandelszone der Welt werden, an der sich neben den USA und Japan zehn weitere Anrainer des Pazifiks beteiligen wollten. Der entscheidende Punkt: China war nicht eingeladen, was Peking – sicherlich zu Recht – als Versuch auffasste, seinen Einfluss in Ost- und Südostasien einzudämmen. Nach Trumps Rückzug aus der TPP verfolgte Abes Regierung die TPP mit den verbliebenen zehn Interessenten weiter. Das Abkommen, jetzt bekannt als TPP-11, soll nun im März unterzeichnet werden. Für Japan ist das durchaus ein Erfolg, nicht nur, weil Tokio bei den Verhandlungen federführend war. Das Maximalziel – ein wirkliches Gegengewicht zu China zu fördern – dürfte zwar ohne die USA nicht erreichbar sein. Aber das Abkommen ist ein Signal dafür, dass Japan einen globalen, freien Handel unterstützt und in der Lage ist, eigene Bündnisse zu schmieden.

Auch das japanische Freihandelsabkommen mit der EU, kurz JEFTA, das Anfang 2019 in Kraft treten soll, zeigt, dass Japan sich als Akteur ins Spiel bringen kann. Die beteiligten Länder umfassen gemeinsam rund 30 Prozent des weltweiten BIP. Shinzo Abe bezeichnete die Einigung als „die Geburt der größten Wirtschaftszone der Welt.“ Tatsächlich dürfte das JEFTA bedeutende Verbesserungen bringen. So kann Japan gemäß einer Studie der Bertelsmann Stiftung damit rechnen, dass es ihm Zuwächse im Umfang von bis zu 1,6 Prozent seines BIP einbringen wird. Für Deutschland, das unter allen EU-Ländern am meisten davon profitieren würde, dürften sich die Zuwächse auf bis zu 0,7 Prozent seines BIP belaufen. Das ist zwar für keinen der Partner ein Gamechanger, aber es bringt erhebliche Verbesserungen und setzt positive Signale.

Japan ist zwar mit den Problemen des Wohlstands etwas schwerer beladen als wir. Das drückt mitunter die Stimmung und erzeugt Symptome, die denen der Hashimoto-Krankheit ähneln.

Trotzdem wäre es ein Fehler, die Schwierigkeiten, vor denen das Land steht, als so etwas wie eine Krankheit aufzufassen. Japan befindet sich nicht auf einem Abweg. Es ist damit beschäftigt, die Resultate des eigenen Erfolgs zu meistern. Wir wären gut beraten, das mit Interesse und Wohlwollen zu verfolgen.


Bernhard Bartsch

Bernhard Bartsch ist Senior Expert im Asien-Programm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er über zehn Jahre als Ostasien-Korrespondent in Peking, u. a. für die NZZ und Brand eins.