Ein Blick hinter die Kulissen von Chinas „Neuer Seidenstraße“

Ende April 2019 traten Regierungschefs und Minister aus 150 Ländern vor der Großen Halle des Volkes in Peking gemessenen Schrittes vor Xi Jinping. Einer nach dem anderen schüttelte dem Staatspräsidenten Chinas die Hand. Eine große Respektsbekundung angesichts der Tatsache, dass der Anlass auf den ersten Blick weder von großer außen- noch sicherheitspolitischer Bedeutung war. Im Gegenteil: Es handelte sich um eine Konferenz rund um das Thema Verkehr – das „One Belt, One Road“-Gipfeltreffen.


„One Belt, One Road“, das ist ein Slogan, der bereits seit einiger Zeit – manchmal auch als Kürzel „OBOR“ – durch die westlichen Medien geistert. Dabei wird allerdings nur selten richtig klar, worum es wirklich geht: ein gigantisches Paket aus verschiedenen Verkehrsprojekten, die allesamt das Ziel verfolgen, China besser mit Asien, Europa und Afrika zu verbinden. Mit dem Ausbau und der Finanzierung internationaler Eisenbahnnetze, Flughäfen, Hafenanlagen und Autobahnen – sei es in Kasachstan, in Kenia oder auf Sri Lanka – will Peking seine eigene Version der antiken Seidenstraße ins Leben rufen. Was erst mal nicht weiter tragisch klingt, ruft im Ausland seit nunmehr fünf Jahren sehr geteilte Reaktionen hervor. Mancherorts wird das Projekt als gelungene Globalisierungsmaßnahme „made in China“ gepriesen. Anderswo zittert man vor Angst und befürchtet, dass die OBOR-Initiative den ersten Schritt in ein chinesisches Jahrhundert markieren könnte, in dem Peking die Fäden zieht und sich als neue Weltmacht etabliert. Merkwürdig ist derweil, dass der Rausch um OBOR in China selbst viel bescheidener ausfällt. Bange fragen sich die Amtsökonomen der Kommunistischen Partei (KP) dort, ob das Projekt überhaupt sinnvoll ist. Kann es wirklich dabei helfen, die Überkapazitäten loszuwerden, welche die chinesische Industrie seit Jahren plagen? Und tut China der Welt nicht einen allzu großen Gefallen damit, das globale Verkehrsnetz auf Kosten der eigenen Währungsreserven auszubauen? Hört man sich in China um, dann zollte die Welt im April 2019 mit Xi Jinping zwar vielleicht dem richtigen Mann Respekt, aber nicht dem richtigen Projekt. Im Land der Mitte ist die Neue Seidenstraße umstritten. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass es sich bei rund 70 % der bereits unterschriebenen Dokumente um nichts weiter handelt als vage Absichtserklärungen, von denen überhaupt nur rund die Hälfte echte Infrastrukturprojekte betreffen. Wer genauer hinschaut, stößt stattdessen auf ein reichlich konfuses Bild: Hier eine Vereinbarung zur Verbesserung der Schulbildung in Afrika, da eine Absprache für besseren Umweltschutz in Zentralasien – und zwischendrin eine ganze Reihe von unverbindlichen Vereinbarungen über den Austausch handelsüblicher Warenund Dienstleistungen. Wird bei der OBOR-Initiative also viel Lärm um nichts gemacht? Handelt es sich bei dem Projekt am Ende vielleicht gar nicht um eine visionäre Strategie, sondern nur um business as usual? 

Keine durchdachte Kommunikationsstrategie Tatsächlich ist schon allein die Entstehungsgeschichte des Projekts reichlich bizarr. Der Plan, die antike Seidenstraße wiederzubeleben, wurde von Xi Jinping erstmals im September 2013 bei einem Staatsbesuch in Kasachstan erwähnt. Rund einen Monat später wiederholte Chinas Ministerpräsident Li Keqiang dieselbe Idee in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, sprach allerdings von einer „maritimen Seidenstraße“. Kurz darauf herrschte dann allerdings Funkstille. Mehr als neun Monate vergingen und die chinesische Propagandamaschine schwieg. Kein Wort mehr zur „Neuen Seidenstraße“. Eine durchdachte Kommunikationsstrategie war nicht zu erkennen.

Erst im August 2014 regte Peking sich wieder, allerdings mit ganz neuem Vokabular: Nun sprach die KP-Führung von einem „chinesischen Marshallplan“. Dieser solle helfen, die eigenen Warenüberschüsse ins Ausland zu exportieren und Chinas kontinentale Energie- und Rohstofflieferungen zu diversifizieren. Neben diesen wirtschaftlichen Ambitionen schienen aber plötzlich auch geopolitische Gesichtspunkte eine Rolle zu spielen. Yan Xuetong, Professor an der renommierten Universität Peking, argumentierte etwa, dass sich China mit dem Ausbau der Neuen Seidenstraße gen Westen auch vor der Konkurrenz aus dem Osten schützen könne. Gemeint waren damit vor allem die USA und ihre asiatischen Verbündeten – von Japan, Südkorea und Taiwan über die Philippinen bis hin zu Singapur und Thailand. In Peking befürchtete man wohl, dass die se Allianz China im Falle eines Krieges schnell schachmatt setzen könnte, da fast 80 % der chinesischen Produktionskapazitäten an der östlichen Küste des Landes liegen. Dementsprechend handelte es sich bei der Initiative, die Ende 2014 unter dem Namen „Topdesignierte Staatsstrategie ‚One Belt, One Road‘“ von der KP verabschiedet wurde, nicht nur um ein Verkehrs- und Infrastrukturprojekt, sondern auch um eine sicherheitspolitische Strategie. Doch damit nicht genug der Verwirrung darüber, was die chinesische Regierung mit der Neuen Seidenstraße nun eigentlich bewirken wollte. Im Januar 2015 wurden fünfzehn Risikoanalysen für das Projekt öffentlich, die allesamt konstatierten, dass die OBOR-Initiative nicht nur „enorme Risiken“ und „vergeudetes Geld“ für die beteiligten Anrainerstaaten aus Zentralasien, Südost- und Südasien, dem Mittleren Osten, dem Balkan und Ostafrika bedeuten würde, sondern auch für China selbst. Zudem seien in China sowohl „innenpolitische Verwerfungen sowie geopolitische Risiken in Anrainerstaaten“ als auch „geopolitischer Widerstand“ aus dem Ausland zu befürchten. Als Reaktion schwenkte die KP einmal mehr um.

Im August 2015, also genau ein Jahr nach dem Beginn der amtlich verordneten Debatte über die Neue Seidenstraße, ruderte man wieder zurück. Alle staatlichen Medien wurden angewiesen, Vergleiche zwischen OBOR und dem Marshallplan aus der Berichterstattung zu streichen. Weder plane China eine solche Initiative, hieß es plötzlich aus Peking, noch sei der Marshallplan eine geeignete Vergleichsgröße für das Seidenstraßen-Projekt: Dieser sei nach dem Zweiten Weltkrieg vielmehr ein imperialistisches Eroberungsinstrument der USA gewesen. OBOR hingegen sei ein Ausdruck chinesischer Großzügigkeit und diene der ganzen Welt. Längst war vergessen, dass alle drei ursprünglichen Ziele – der Export von Überkapazitäten, die Diversifizierung der Lieferwege sowie die Absicherung eines strategischen Rückzugsgebietes für China im Falle eines großen Krieges – ausschließlich national-egoistischen Prinzipien dienten.

Ein Projekt chinesischer Großzügigkeit? Nun begann China, seine zuvor selbst ausgerufenen Zielsetzungen zu dementieren. Niemand habe die Absicht, die Welt mit chinesischen Überschusswaren zu überschwemmen, ließ die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua verlauten und erfinderische Agenturen in Peking erschufen immer neue Euphemismen, um das Projekt in ein besseres Licht zu rücken. Statt vom „Export von Überkapazitäten“ zu sprechen, redete man jetzt von „channeng duijie“, was zu Deutsch so viel wie „Anschluss an Produktionskapazitäten“ bedeutet. Doch auch diese Sprachregelung hielt nicht lange und wurde genauso wie der Ausdruck „Diversifizierung der Lieferwege“ schnell wieder verboten. Ende 2016 war es dann sogar so weit, dass die KP auch das Wort „Strategie“ aus dem offiziellen Wortschatz strich. Alle diplomatischen Vertretungen Chinas wurden angewiesen, OBOR weicher zu definieren und auch nicht mehr mit dem Projekt zu werben. Im April 2017 sagte Shi Mingde, Chinas Botschafter in Berlin, bei einer öffentlichen Veranstaltung: „OBOR ist noch nie Strategie gewesen, sondern war von Anfang an eine offene Plattform.“ Zur selben Zeit war die Originalfassung der „topdesignierten Staatsstrategie ‚One Belt, One Road‘“ aber noch immer auf der Homepage des chinesischen Handelsministeriums abrufbar. Anzunehmen ist, dass es sich bei den meisten der vermeintlichen Ausrutscher bis Ende 2016 bloß um propagandistische Tricks handelte, welche die geopolitischen Dimensionen des Großprojektes verbergen sollten. Mittlerweile scheint aber selbst in China niemand mehr so recht an die Erfolgsaussichten der Strategie zu glauben. 2017 änderte die chinesische Führung den Titel zwar noch ein letztes Mal – OBOR wurde zu „BRI“, der „Belt and Road Initiative“ –, wusste aber anscheinend selbst nicht mehr, wieso und weshalb, wo doch schon beim OBOR-Gipfel 2019 wieder das alte Kürzel verwendet wurde.

In der Zwischenzeit sind die Ziele des Projekts immer weiter verwässert worden und bleiben weiterhin maximal vage: Gemeinsam mit internationalen Partnern sollen Handels- und Verkehrsprojekte geplant und globale Infrastrukturen finanziert werden. Für den Rest der Welt bedeutet das wohl Folgendes: China mag zwar eine Strategie für seinen Aufstieg zur Weltmacht schmieden, mithilfe der OBOR-Initiative wird das aber nicht gelingen – und auch wenn die Neue Seidenstraße im Westen gerne besprochen wird: Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass das chinesische Megaprojekt am Ende genauso unglaubwürdig ist wie die „Strategien“, die derzeit aus dem Weißen Haus kommen.

<small>(Nachdruck aus: „KULTURAUSTAUSCH – journal for international perspectives“, Ausgabe 3/2019)</small>

 

 


Shi Ming

Shi Ming ist freier Journalist. Er stammt aus Peking, wo er auch aufwuchs. Er studierte Germanistik und Jura. Arbeitete als Journalist und als Jurist. Seit 1990 lebt und arbeitet er freiberuflich in Köln, Freiburg und Berlin.