Bangladeschs Aufstieg in die Mittelklasse

Bangladesch macht im Westen vornehmlich mit Schreckensmeldungen von sich reden. Doch neben der Textilbranche verfügt das Land über einiges Potenzial. Herausforderungen bleiben aber bestehen.


Und plötzlich ist man in den Hinterhöfen von Dhakas Hafenquartier bei Schiller. Bloß dass aus den Formen, die da in der Erde stehen, keine Glocken werden, sondern Schiffsschrauben. In einfachsten Kleingießereien wird Altmetall geschmolzen und wiederverwertet. Zwei junge Burschen, barfuß und in kurzen Hosen, treten an einen der in den Boden eingelassenen Schmelzöfen heran und heben den Deckel vom Schwalch, aus dem wilde Funken stieben. Sechs, sieben weitere Gesellen sind zur Hand, um mit einer langen Eisenzange den glühenden Tiegel aus der Hitze empor zu holen. Die zu gleißendem gelb geschmolzene Gussspeise kommt blubbernd zum Vorschein. Vorsichtig trägt man den schweren Behälter zur eingedämmten Form und gießt das zäh fließende Metall hinein. Rußgeschwärzt und verschwitzt blicken die Arbeiter auf die erkaltende Masse. In der Schwüle des Monsuns ist die Hitze des Gießgeschäfts noch unerbittlicher.

Ansehnliche Entwicklung

Im Hafen der bengalischen Hauptstadt werden ausgeweidete Schiffe auf Vordermann gebracht, auch mit den direkt vor Ort gegossenen Schiffsschrauben. Einige der Schiffsrümpfe lagen zuvor im Hafen von Chittagong, einem der größten Schiffsfriedhöfe der Welt, wo ausgemusterte Boote unter ähnlich abenteuerlichen Bedingungen zerlegt werden, wie sie in Dhakas Hinterhofgießereien herrschen. Daneben gibt es aber auch Werften, die Boote für den internationalen Markt herstellen. Die beiden größten im Geschäft, Ananda Shipyards in Dhaka und Western Marine in Chittagong, haben bisher zwanzig kleinere Schiffe nach Europa geliefert. Bis die Finanzkrise weltweit die Aufträge einbrechen ließ, galt die Schiffsbauindustrie als einer der Wachstumstreiber für die bengalische Wirtschaft.

Die protoindustriellen Fertigungsmethoden in Dhakas Hafenviertel mit Arbeitskräften, die längst nicht alle volljährig sind, passen gut ins Bild von Bangladesh als einem armen, rückständigen Land – eine exportorientierte Schiffsbauindustrie aber weniger. Doch genau dieses Nebeneinander prägt die Realität im Land. Im Westen dagegen überwiegen negative Schlagzeilen: bittere Armut und Überbevölkerung, Industrieunfälle und die Gefahren des Klimawandels, die ständige politische Instabilität, der islamistische Terror und jüngst die Welle von Rohingya- Flüchtlingen aus Burma.

Dass Bangladesch, ausgehend von sehr tiefem Niveau, seit seiner Abspaltung von Pakistan 1971 allen Widrigkeiten zum Trotz eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen hat, geht meist vergessen. Das Wirtschaftswachstum stieg über Jahrzehnte immer weiter an und lag jüngst zwar wohl nicht bei den offiziellen 7,4 Prozent, aber dennoch auf ansehnlichem Niveau. Auch bei sozioökonomischen Indikatoren wie der Alphabetisierungsrate bei Mädchen oder der Müttersterblichkeit wurden große Fortschritte gemacht. Gerade wegen seiner schwachen Institutionen, der Korruption und der Instabilität gilt Bangladesch als Überraschungsfall. Der Stolz auf die «resilience», die Fähigkeit, widrigen Umständen zu trotzen, scheint bei fast jedem Gespräch durch.

Bis zum 50. Jahrestag der Staatsgründung soll Bangladesch nach den Plänen der Regierung das Stigma des rückständigen Armenhauses endgültig abgelegt haben, wobei explizit auf einen Aufstieg in den Klassifikationen internationaler Organisationen geachtet wird. Den allein am Bruttonationaleinkommen festgemachten Status eines «lower middle income country» gemäß der Weltbank hat Bangladesch bereits 2014 erreicht, es gilt mit USD 1.330 pro Kopf nun nicht mehr als Niedrigeinkommensland. Für den Austritt aus der von der Uno definierten Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder («least developed countries », LDC) müssen daneben auch bei sozioökonomischen Indikatoren oder bei der an Faktoren wie Industrieanteil und Exportwirtschaft festgemachten ökonomischen Stabilität gewisse Schwellenwerte erreicht werden.

Die Leiterin der wirtschaftspolitischen Denkfabrik Centre for Policy Dialogue in Dhaka, Fahmida Khatun, hält das bei der anstehenden Neubeurteilung 2018 für möglich. Nach der dreijährigen Probezeit könnte Bangladesch dann zum großen nationalen Jubiläum tatsächlich den ungeliebten LDC-Status ablegen. Für die bisherige Entwicklung kam der exportorientierten Produktion eine zentrale Bedeutung zu, die laut Khatun auch über das rein Ökonomische hinausgeht. So habe ein Frauenanteil von 80 Prozent unter den rund 4 Mio. Beschäftigten der Textilindustrie auch zu einer gewissen Stärkung der Frau in der traditionellen Gesellschaftsordnung beigetragen. Khatun erkennt aber auch die Rolle entwicklungspolitischer Akteure an. Das Bangladesh Rural Advancement Committee (Brac), die größte Nichtregierungsorganisation der Welt, habe durch Programme wie Mikrokredite maßgeblich zur Armutsbekämpfung auf dem Land beigetragen. Noch immer ist jeder zweite Werktätige in der Landwirtschaft beschäftigt, oft auf Subsistenzniveau. Wie anderswo in Südasien absorbiert der formelle Sektor nur einen Bruchteil der Arbeitskraft.

Im Schatten der Textilindustrie

Der ambitionierte, «Vision 2021» genannte Entwicklungsplan der Regierung geht weit über ökonomische Ziele hinaus. Diese erhalten aber die meiste Aufmerksamkeit, die exportorientierte Fertigung spielt weiterhin eine zentrale Rolle. Von überragender Bedeutung ist dabei die Textilindustrie, die mit USD 28 Mrd. 82 Prozent aller Exporterlöse erwirtschaftet. Rechnet man neben fertigen Kleidungsstücken auch unverarbeitete Stoffe, Schuhe und Lederprodukte hinzu, ist der Anteil noch höher. Nach Jahren zweistelliger Wachstumsraten ist die Expansion im vergangenen Jahr zwar auf vergleichsweise mickrige 3 Prozent zurückgegangen. Der Verband beklagt die höheren Produktionskosten, die durch die neuen Anforderungen seit dem Einsturz einer Fabrikhalle 2014 mit mehr als 1100 Toten entstanden sind. Die wichtigsten westlichen Abnehmer bangalischer Textilprodukte, für die das Unglück ein Reputationsproblem darstellte, forderten nach der Katastrophe Minimalstandards und höhere Löhne für die Arbeiter ein.

Unabhängige Beobachter halten die Klagen der Produzenten für wohlfeil, schließlich hätten sie sich während Jahrzehnten gegen Anpassungen gewehrt. Allerdings wird auch den westlichen Käufern eine gewisse Scheinheiligkeit unterstellt. Trotz höheren Erwartungen bestünden diese auf Tiefstpreisen. Zudem achte man nun zwar in Bangladesh auf Produktionsbedingungen, bei Konkurrenten in Südostasien und Afrika würden aber oftmals weiterhin beide Augen zugedrückt. Dennoch ist Bangladesh dank Know-how und jahrzehntelanger Erfahrung bei tiefem Lohnniveau noch immer konkurrenzfähig.

Dies gilt auch für andere, weniger bekannte Industriezweige, deren Förderung auch von unabhängiger Seite begrüßt wird. Denn die Dominanz des Textilsektors stellt ein erhebliches Klumpenrisiko dar. An den Küsten des Landes sind unzählige Farmen für Schalentiere, vor allem Garnelen, entstanden. Meeresprodukte sind mit Erlösen von über USD 600 Mio. mittlerweile das zweitwichtigste Exportgut. Die Industrie ist aber nicht unumstritten. Die Flutung ganzer Landstriche trägt zur ohnehin voranschreitenden Versalzung im Küstengebiet bei und gefährdet die Existenz vieler Kleinbauern. Dies erkennt auch Khatun an, dennoch überwiege der ökonomische Nutzen die Kosten der Shrimp-Industrie.

Als Nischenmarkt mit viel Potenzial gilt die Pharmaindustrie, die mittlerweile 96 Prozent des Binnenbedarfs an Medikamenten deckt. Wie in Indien wird hier dank gut ausgebildeten Fachleuten und tiefem Lohnniveau zudem auch kostengünstig für den Export produziert. Auch Novartis hat eine Tochterfirma im Land. An die rustikalen Produktionsmethoden in Dhakas Hinterhofgießereien erinnert da wenig. Dasselbe gilt für die aufstrebende IT-Industrie, wo es ebenfalls einen Schweizer Akteur gibt. Der Unternehmer Julian Weber entwickelt in Dhaka Softwarelösungen. Über eine Plattform für freischaffende Programmierer sei er auf den Standort aufmerksam geworden. Mittlerweile hat seine in Brüttisellen domizilierte Selise AG 100 Angestellte in Bangladesch, 15 in Bhutan.

Bangladesch verfüge als IT-Standort über ähnliche Vorzüge wie Indien, doch sei der Markt noch unberührt, und man müsse sich nicht gegen internationale Großunternehmen behaupten, die alle Talente abwürben. Das Land habe aber nicht nur für den Export, sondern angesichts einer Bevölkerungsgröße von 163 Mio. und der wachsenden Mittelschicht auch als Binnenmarkt für Investoren Potenzial, sagt der HSG-Absolvent.

Und die Terrorgefahr? Im Juli 2016 töteten Anhänger des Islamischen Staates in einem Restaurant in Dhakas Botschaftsviertel gezielt alle Ausländer im Raum. Bereits davor war es zu kleineren Anschlägen gekommen. Das sei mittlerweile ein globales Problem, heißt es, auch in Europa bestehe Terrorgefahr. Tatsächlich haben die Vorfälle wegen zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen zu höheren Kosten geführt, der Investitionsstandort hat aber nur marginal darunter gelitten. Die bedrückte Stimmung, die im vergangenen Sommer in Dhaka überall spürbar war, ist tatsächlich weitestgehend verflogen. Ob auch ein zweiter Anschlag dieses Ausmaßes ohne größeren Schaden weggesteckt würde, ist allerdings fraglich. Auch deshalb hat die Regierung ihre Bemühungen zur Terrorabwehr stark ausgebaut.
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Die Kehrseite des Aufstiegs

In Sicherheitsfragen stellen viele im Land der Regierung mittlerweile ein ordentliches Zeugnis aus. Manche sehen angesichts der relativen Ruhe in dem oft von endlosen Generalstreiks gelähmten Land auch über die zunehmend autoritären Anwandlungen der regierenden Awami League hinweg. Diese drückt dem traditionellen Gegenspieler, der Bangladesh National Party, die Luft ab und verfolgt die islamistische Jamaat-e Islami offen. Macht die Regierung also alles in allem einen guten Job und bringt das Land voran? «Wenn wir in vier Jahren nicht mehr zur Gruppe der LDC gehören, ist das ein Prestigegewinn für die Regierung. Über ihre Versäumnisse sollte das aber nicht hinwegtäuschen», erklärt die Ökonomin Khatun.

Der Hafen von Chittagong, über den mehr als 90 Prozent aller Exporte abgewickelt werden, und dessen Zufahrtsstraßen sind chronisch überlastet. Hafenprojekte in anderen Landesgegenden kommen nicht vom Fleck, auch die Energieversorgung ist prekär. Die Regierung investiert zwar durchaus in die Infrastruktur, hat aber eine Vorliebe für prestigeträchtige und kostspielige Großprojekte wie die sechs Kilometer lange Brücke über den Fluss Padma, das größte und mit USD 3 Mrd. teuerste Bauvorhaben in der Geschichte des Landes.

Oft treibt die weitverbreitete Korruption die Preise in schwindelerregende Höhen. Der Bau eines Autobahnkilometers ist in Bangladesch teurer als in vielen Ländern Europas. Private Investitionen gibt es nur wenige. Das meiste Geld fließt aus dem Land, auch weil Geschäftsleute, die der Opposition nahestanden, Repressionen fürchten. Die staatlichen Banken vergeben Gelder oftmals nach politischen Kriterien und leiden, wie in Indien, unter faulen Krediten in Milliardenhöhe. Den Wettstreit zwischen Peking und Delhi um Einfluss im Land vermag Dhaka zwar zum eigenen Vorteil zu nutzen und sicherte sich von beiden Seiten Investitionsprojekte. Es besteht aber auch die Sorge hinsichtlich eines sri-lankischen Szenarios, bei dem die drückende Schuldenlast zu politischer Abhängigkeit von China geführt hat.

Und nicht zuletzt, mahnt Khatun, müsste man sich auf die Veränderungen vorbereiten, die mit dem Aufstieg in die Mittelklasse einhergingen. Ironischerweise haben das Land und insbesondere die Exportpolitik von dem Status, den die Regierung so dringend abzulegen versucht, in der Vergangenheit stark profitiert. LDC erhalten vergünstigte Kredite, der im Trips-Abkommen der WTO geregelte Patentschutz kommt für Pharmaprodukte nur sehr eingeschränkt zum Einsatz, und bei Exporten in die EU, dem wichtigsten Absatzmarkt für bangalische Textilprodukte, gelten die besonders vorteilhaften Zollbedingungen des GSP+-Regimes nur für schwache Entwicklungsländer. An Gelegenheiten, seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis zu stellen, wird es Bangladesch also auch nach 2021 nicht mangeln.

<small>Dieser Artikel erschien in der NZZ am 15. November 2017.</small>


Volker Pabst

Volker Pabst ist seit 2012 Mitglied der NZZ-Auslandredaktionn und seit Herbst 2014 Korrespondent in Delhi für die Region Südasien.