Zeichen für den freien Handel in Zeiten des Protektionismus – EU-Parlament stimmt Abkommen mit Vietnam zu

Am 12. Februar hat das EU-Parlament nach acht Jahren Verhandlung dem Freihandelsabkommen mit Vietnam (EVFTA) zugestimmt. Es ist das ambitionierteste und umfassendste Abkommen, welches die EU je mit einem Land mit mittleren Einkommen geschlossen hat. Es hebt Vietnam auf das Niveau von Industrienationen wie Japan, Südkorea oder Singapur, mit denen die EU bereits vergleichbare Abkommen geschlossen hat.


Dieses Handelsabkommen ist als ein Investment der EU in das aufstrebende Vietnam zu verstehen. Gerade in Zeiten des schwelenden Konfliktes zwischen China und den USA sowie des weltweit an Boden gewinnenden Neoprotektionismus hat das EVFTA Meilensteincharakter für den freien Handel. Es trägt maßgeblich zur Vernetzung zweier Wirtschaftsräume bei und hat eine klar friedensstiftende Wirkung. Es wird erwartet, dass bis 2035 durch das Abkommen zusätzliche vietnamesische Exporte von etwa 15 Mrd. Euro im Jahr in die EU fließen und umgekehrt auch die Importe Vietnams aus der EU um 8,3 Mrd. Euro maßgeblich ansteigen. Der Großteil der EU-Parlamentarier hat sich für den Deal ausgesprochen, obgleich Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtssituation in Vietnam bestehen. Als größte Volkswirtschaft der EU profitiert Deutschland überproportional von dem Abkommen, v.a. da die bilateralen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Vietnam eng sind. Daher warteten nicht nur in Vietnam, sondern auch in Deutschland seit der Vertragsunterzeichnung im Juni 2019 viele mit großer Hoffnung auf die EU-Entscheidung.

Warum gerade Vietnam?

Nach über zwei Jahrzehnten robusten Wachstums war Vietnam auch im letzten Jahr mit 7 % Wirtschaftswachstum eine überaus dynamische Volkswirtschaft. In den ver gangenen 10 Jahren verfünffachte sich zudem das Handelsvolumen mit der EU, sie ist inzwischen der zweitgrößte Exportmarkt Vietnams. Im direkten Vergleich mit anderen Ländern der Region zeigt sich Vietnam bei dem Einsatz für freie Märkte besonders engagiert: Das Land legt großen Ehrgeiz an den Tag, neue Freihandelsverträge auszuhandeln. Ein markantes Beispiel hierfür ist der Beitritt zum Abkommen mit den Pazifikanrainern CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership). Im Gegensatz zu anderen autoritär regierten Staaten hat die KP Vietnams die Relevanz offener Märkte und der Rule-of-law in Wirtschaftsfragen verinnerlicht. Die Bereitschaft, im Rahmen des EVFTA nahezu alle Zölle für EU-Exporte in den kommenden 10 Jahren aufzuheben, war für ein Land mittleren Einkommens eine große Herausforderung. Da Vietnam sich dieser Herausforderung schon zu stellen bereit ist, tut die EU gut daran, sich mit dem sich zu einem Industrieland entwickelnden Vietnam auseinanderzusetzen.

Vietnams Weg aus der Middle-Income-Trap

Wesentlicher Bestandteil des EVFTA ist die Verpflichtung beider Seiten, Handelshemmnisse abzuschaffen. 99 Prozent der Zölle und die meisten anderen nichttarifären Barrieren sollen für Güter und Dienstleistungen in den kommenden 10 Jahren entfallen.

Ein weiterer zentraler Punkt des EVFTA liegt in der Reduktion technischer Regulierungen für beide Seiten. Dies ist v.a. vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Protektionismus in den vergangenen Jahren nicht mehr durch Zölle, sondern vermehrt durch nichttarifäre Handelshemmnisse stattfand, um Strafen durch die WTO zu umgehen. Das EVFTA sorgt hier für Fairness und ermöglicht eine transparente Partnerschaft, indem es für alle Vertragspartner dieselben Standards ansetzt. Ausdrücklich gilt das auch für die Automobil- und Pharmaindustrie. Für die EU ein klarer Vorteil, bedeutet dies für Vietnam zunächst eine Belastung, da die vorherigen Vorteile eines Landes mit geringeren Ansprüchen an Standards wegfallen. Mittelfristig ist es jedoch eine Chance, durch eine qualitativ hochwertige Produktion der Middle-Income-Trap (der Gefahr, auf der mittleren Entwicklungsstufe stehenzubleiben) zu entkommen und sich durch wettbewerbsfähige Produkte auf dem Weltmarkt neu zu platzieren. Das EVFTA wird somit zu einem Meilenstein für Standards im Handel zwischen der EU und Vietnam.

Technologietransfer Richtung Süden

Mit Sicherheit wird  der mit dem EVFTA einhergehende Technologietransfer positive Effekte auf die Modernisierung der vietnamesischen Volkswirtschaft haben, da Hochtechnologie aus der EU ihren Weg in das südostasiatische Land finden wird. Gleichzeitig wird die EU davon profitieren, für die eigene Industrieproduktion benötigte Komponenten aus Vietnam importieren zu können. Vietnams Hauptexportgüter sind heute komplexe Produkte wie Mobiltelefone samt Komponenten, Elektrotechnik und Computer, Maschinenbauprodukte und -zubehör. Während Chinas Wirtschaft durch den Handelskrieg mit den USA, eine repressiver werdende Wirtschaftspolitik, steigende Löhne und – neuerdings – die Folgen des Coronavirus schwächelt, präsentiert sich Vietnam zunehmend als „das bessere China“ (FAZ, 26.02.2019) hinsichtlich Rohstoffveredelung und kapitalintensiver Verarbeitung. Das Angebot der EU an Hochtechnologie, Ausrüstung und Maschinen passt dabei sehr gut zu den Bedürfnissen von Vietnams verarbeitenden Gewerbes.

Vietnam als Betätigungsfeld der deutschen Wirtschaft

2019 ist ein durchwachsenes Jahr für die deutsche Wirtschaft gewesen, Brexit und sich abzeichnende wirtschaftspolitische Schwierigkeiten in der EU und der US-China-Handelskrieg haben die exportorientierte deutsche Wirtschaft beeinträchtigt. Denn China war im Vorjahr drittgrößter Abnehmer deutscher Exporte. Die Abwertung des Yuan, Umweltprobleme und die innenpolitische Lage (Hongkong) tragen dort zu einer Abkühlung der Wirtschaftslage bei. Zwar ist es angesichts der viel kleineren Dimension des vietnamesischen Marktes unangebracht zu sagen, Vietnam könne China als Abnehmer deutscher Produkte wie Fahrzeuge, Maschinen, Chemie und Nahrungsmittel ersetzen. So war der Handelsumsatz zwischen China und Deutschland 2018 mit 199,3 Mrd. Euro um ein Vielfaches höher als der mit Vietnam (13,9 Mrd. Euro). Dennoch kann erwartet werden, dass das Handelsabkommen mit Vietnam eine Brücke sein wird, die Deutschland mit vielversprechenden Märkten in ASEAN verbindet.

Was ist nach der Zustimmung zum EVFTA noch offen?

Fast alle Seiten sind mit den wirtschaftlichen Aspekten des Handelsabkommens zufrieden. Es ist ambitioniert und vielversprechend. Vietnam zeigt sich darin als engagierter Handelspartner. Kritik macht sich eher an den institutionellen Gegebenheiten in Vietnam fest: Anfang Februar 2020 bemängelten bspw. 28 NGOs die Menschenrechtssituation in Vietnam. Aktuell betrifft das v.a. die Geschehnisse im Dorf Dong Tam, wo es im Januar im Zuge von Enteignungen für eine militärische Anlage zu Ausschreitungen kam. Auch wenn das Abkommen einen liberalen Geist atmet und ein klares Bekenntnis der kommunistischen Regierung zu einer Fortsetzung der wirtschaftlichen Öffnung ist, bleibt die Sorge hinsichtlich Autoritarismus, fehlender Transparenz und zivilgesellschaftlicher Freiheiten bestehen. Vietnam hat sich seit den Reformen des Doi Moi (1986) wirtschaftlich immer weiter geöffnet. Liberale Gedanken haben dadurch im Land Fuß gefasst und werden über kurz oder lang auch ihren Niederschlag in einem gesellschaftlichen Wandel finden. So erhalten durch den wirtschaftlichen – und wissenschaftlichen – Austausch demokratische Ideen Einzug in die Gesellschaft.



➞ Zu den Autoren:

Andreas Stoffers ist Professor für Internationales Management und Landesdirektor Vietnam der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hanoi.

Bui Ha Linh studierte VWL und ist Projekmanagerin der Friedrich- Naumann-Stiftung in Hanoi.