Bücherschau: Chinas Aufbruch in die Welt

Nach dem 19. Kongress der KP China waren sich die Kommentatoren einig, dass das Land künftig noch stärker versuchen wird, seine spezifischen Ansichten und Interessen nach außen durchzusetzen. Aber wie sehen eigentlich Chinas interne Befindlichkeiten und strategische Antriebsmomente aus und wo drohen die größten Risiken des neuen Expansionskurses? Drei Bücher versuchen eine vertiefte Aufklärung. Von Daniel Müller, OAV

 

Tiefe Verunsicherung und demonstratives Selbstbewusstsein

Lange hatte es gedauert, bis die Berichterstattung über China ein adäquates Maß an Differenzierung erfahren hat. In jüngster Zeit gewinnen indes wieder eher holzschnittartige Interpretationen die Oberhand: Standen zunächst Chinas Defizite über Gebühr im Zentrum, gelten nun der Triumph im Systemwettbewerb mit dem Westen und eine baldige Weltmachtrolle als gesichert. Dass beide Sichtweisen mindestens unterkomplex sind, beweist FAZ-Reporter Mark Siemons in seinem glänzend geschriebenen Band, der anhand einer Reihe von Stichworten und alltäglichen Beobachtungen den Paradoxien im heutigen China nachspürt. Diese Widersprüche – etwa zwischen Zentralismus und Pluralismus oder zwischen Korruptionsbekämpfung und fehlender Machtbegrenzung – sind im Kern nicht neuartig. Sie haben aber mit der „Reform der Reformen“ unter Präsident Xi eine neue, für die Außenwelt verwirrende Qualität erhalten. Denn Xis defensiv ausgerichtete Initiativen nehmen die Prinzipien der pragmatischen Reformen von Deng Xiaoping zurück und vermischen sich dabei mit den realen Folgen dieser epochalen Neuerungen. Das Resultat seien eine Rezentralisierung und eine moralisch-ideologische Aufrüstung, welche die Diskrepanz zur marktwirtschaftlichen Realität jedoch noch größer erscheinen lässt. Die Partei versuche die trotz aller Erfolge gestiegene Verunsicherung hinsichtlich ihrer langfristigen Rolle mit demonstrativem Selbstbewusstsein und vagen Slogans wie vom „Chinesischen Traum“ und dem „Wiederaufblühen der chinesischen Nation“ abzumildern. Welches System und welche konkreten Ziele dabei angestrebt werden, bleibt Siemons zufolge aber unbestimmt. Das gelte umso mehr, als es in der chinesischen Tradition einen nur geringen Bedarf an konsistenten Begriffen und Konzepten und einen primären Fokus auf praktisches Handeln gibt. Dies wird für den Westen zum Problem, da China immer reicher und mächtiger wird und man sich eine präzise Vorstellung der verfolgten Strategien und Ziele machen muss. Dies gilt im Übrigen auch für die deutschen Unternehmen vor Ort, die sich mit einem wachsenden Parteieinfluss konfrontiert sehen. Sicher lässt sich jedoch nur sagen, dass die chinesischen Selbstbeschreibungen mit Skepsis aufzunehmen sind und dass das Machterhaltungsstreben der KP die einzige feste Größe ist. Die konstatierte Verunsicherung von Chinas Führung mit ihrem Insiderwissen deutet insgesamt jedenfalls nicht auf einen geradlinigen Aufstieg an die Weltspitze hin.

Mark Siemons
Die Chinesische Verunsicherung.
Stichworte zu einem nervösen System
Carl Hanser Verlag, 22 €
ISBN: 978-3-446-25537-1

Durchsetzung der Interessen mit finanziellen Mitteln

Während Siemons sich der Thematik auf feuilletonistische Weise nähert, hat die Duisburger Politologin Nele Noesselt einen strikt akademischen Zugang gewählt, der allerdings etwas zulasten des Leseflusses geht. Und anders als Siemons geht die Autorin davon aus, dass es klare chinesische Ideen gibt, die das Außenverhalten des Landes anleiten. Diese Ideen seien oft aus internationalen Debatten aufgegriffen und werden auf die chinesischen Verhältnisse angepasst. Dabei gäbe es jenseits der offiziellen Staatsdoktrinen durchaus Raum für die Entwicklung neuer Ideenkomplexe, die zu einer partiellen Neuorientierung im Inneren und Äußeren führen können. Es seien sogar neue Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation festzustellen. Die mittels Sonderkommissionen forcierten Kontrollmaßnahmen unter Xi dienten dazu, die zentrifugalen Tendenzen einzuhegen. Ob diese wohlwollende Lesart zutreffend ist, darf angesichts der jüngsten ideologischen und machtpolitischen Selbsterhebungen des Präsidenten bezweifelt werden. Interessant ist jedenfalls, dass auch Noesselt, zumindest was die Modernisierung der Streitkräfte anbelangt, von einem eher defensiven Ansatz ausgeht. Aktiver angegangen werden derweil die Verteidigung der Handelsinteressen und die Förderung der Erfolgschancen der sich internationalisierenden chinesischen Unternehmen. Hierin sei das eigentliche Motiv für das Ausgreifen über das eigene Territorium hinaus zu sehen. Es bestehe ein innerchinesischer Konsens, dass ein außenpolitischer Expansionismus diesen Zielen schaden würde. Die bevorzugten Mittel zur Interessendurchsetzung seien deshalb vielmehr ökonomischer und monetärer Natur. Ein zentraler Stellenwert wird generell Image- und Statusfragen beigemessen. Dies dürfte wiederum dafür sprechen, wie von Siemons angedeutet, die chinesischen Narrative und Sprachbilder kritisch zu beleuchten. Zudem fragt sich, inwiefern der Einsatz monetärer Anreize tatsächlich zur Erreichung von Chinas Zielen führen wird. Dies ließe sich auch mit Blick auf die verstärkte Kooperation mit diversen Staaten in Süd- und Osteuropa fragen, die laut Noesselt Folge der ausgebliebenen Aufhebung des EU-Waffenembargos im Jahr 2005 ist und zu einer neuen EU-Politik Chinas im Sinne einer stärkeren Ausdifferenzierung geführt hat. Auch das Seidenstraßen-Projekt soll der Diversifizierung der Handelswege nach Europa dienen. Allerdings ist es doch fraglich, dass einzelne Infrastrukturprojekte ausreichen, um sich langfristig substanziellen Einfluss in Europa zu sichern – zumal auch Chinas finanzielle Möglichkeiten begrenzt sein dürften.

Nele Noesselt
Chinesische Politik.
Nationale und globale Dimensionen
Nomos Verlagsgesellschaft, 24,99€
ISBN: 978-3-8252-4533-71

Reale Gefahr der Eskalation im Südchinesischen Meer

Auch Noesselt räumt ein, dass die Territorialdispute im Ost- und Südchinesischen Meer nicht so richtig in das Bild einer nichtexpansiven Außenpolitik passen. Dieser Komplex lässt sich noch auf die Zunahme von Konfliktrisiken in Asien-Pazifik und die sich verschärfende Rivalität mit den Vereinigten Staaten ausweiten. Eine wichtige Arbeit zu dieser Problematik hat Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik vorgelegt. Positiv hervorzuheben ist, dass Paul seine Studie in viele geopolitische Hintergründe einbettet, die auch für Laien gut verständlich sind. Paul geht davon aus, dass der Schutz der maritimen Handelswege infolge der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung das vorerst zentrale Ziel von Chinas Führung ist, weshalb sie vor allem die Seestreitkräfte aufrüstet. Dies sei verständlich, wird aber seitens der USA als Herausforderung ihrer bisherigen Hegemonialposition verstanden. Die US-Rolle sei dabei ambivalent: Einmal sorgen sie mit ihrer Präsenz für den „freien Zugang zur See“, andererseits sind sie dadurch auch in der Lage, ihre nationalen Interessen militärisch durchzusetzen. Dies wiederum sorgt bei dem auf dem Weg zur Großmacht befindlichen China für Ablehnung, da es möglichen weitergehenden Ambitionen entgegensteht. Damit ist die Ausgangslage für einen klassischen Großmachtkonflikt geschaffen. In der Geschichte haben derartige Konstellationen meist zum Krieg geführt. Für Paul gibt es aber keinen solchen Automatismus, weshalb speziell eine Verkettung unglücklicher Umstände vermieden werden müsse. Auch wenn China kein Interesse an einem militärischen Konflikt hat und einen solchen auch nicht anstrebt, ist es die Volksrepublik, die den Status quo – wie etwa im Südchinesischen Meer – infragestellt. Dort treibt China seine Geländevorstöße mit hybriden Mitteln und einer begrenzten Intensität voran, die einen Gewalteinsatz der Gegenseite als unangemessen erscheinen lässt, aber auf Dauer dennoch zur Eskalation führen kann – mit globalen Auswirkungen. Ziel sei der Aufbau von Anti-Access- und Area-Denial-Fähigkeiten (A2/AD), mit denen man den Zugang zu Gebieten zeitweise oder dauerhaft verwehren kann. Statt einer exklusiven Einflusszone Chinas hält Paul aber die Herausbildung einer Pattsituation für wahrscheinlicher, bei der es primär auf die USA ankommt, durch umsichtiges kooperatives Agieren eine „freie Schifffahrt“ zu gewährleisten. Abgesehen von einer „China-First“-Politik ist auch für Paul unklar, welchen geopolitischen Status China letztlich anstrebt – was wahrscheinlich daran liegt, dass die Führung dies tatsächlich selbst nicht weiß.

Michael Paul
Kriegsgefahr im Pazifik? Die Maritime Bedeutung der Sino-Amerikanischen Rivalität
Nomos Verlagsgesellschaft, 64€
ISBN: 978-3-8487-3392-7